Tsunami im Görlitzer Theater

Am Sonnabend hatte im Gerhart-Hauptmann-Theater ein neues Stück Premiere: „Aqua“

Sächsische Zeitung/Leserbrief
20.01.2015
Friedemann Dreßler
Bach plätschert aus Boxen. Nicht das Weihnachtsoratorium (Kennerkürzel „WO“), vielmehr Bachplätschern, Wasser (H2O). Ich lande im zweiten Theaterrang, rufe die verflossene Kultur-Woche zurück und denke: „Was kann noch kommen?“

Ein europäisches Begegnungszentrum öffnet in Zgorzelec und versammelt Polen, Deutsche, Franzosen aus drei Generationen. Die Kunst der Moderne wird entdeckt, entstaubt und offenkundig im Kaisertrutz. Beide Ereignisse bewegen Menschen und Medien weit über Landesgrenzen. Ein kultureller Wellenschlag wie im Jahr der Görlitzer Kulturhauptstadtbewerbung.

Nun warte ich auf die Premiere von „Aqua“, dem frischen Programm der Tanz Company. Der dritte Gipfel in drei Tagen oder eher eine Untiefe? Eine knöchelhohe Wasserfläche, ein Dancing Pool, Feuchtgebiet im Bühnenraum. Mein Ausguck lohnt. Zweiter Rang, erste Reihe – Lob des späten Kaufs, denke ich und versinke in einem Strudel… Ein Angler fischt Wasserflaschen, eine Nixe taucht auf. Das überrascht wenig. Doch was folgt, ist die tänzerische Bewältigung des Elements. Die Aufhebung der Schwerkraft hat die Company in Alpha 1 erprobt. Nun folgt eine Kaskade von Bildern. Feucht-fröhliche Assoziationen und aalglatte Möglichkeiten ergeben spritzige Szenen. Auf ästhetische Eleganz und artistische Kraft sind Tanztheaterfreunde abonniert. Man muss nicht die Rückenschule absolviert haben, um diesen Figuren Respekt zu zollen.

Was die Görlitzer Tänzerinnen in „Aqua“ erreichen, sind neue Ufer. Naheliegende Gedankenverknüpfungen werden hintersinnig choreografiert. Brilliant anzuschauen, spielt die Company mit Wasser, Licht, Spiegelungen in Formationen, zu zweit, solistisch. Kostüme setzen Akzente, durchfeuchten, und ja, der unvermeidliche Nackt-Akt wirkt selbstverständlich wie selten. Ohne Pause wogt die Szene, frei von Applaus, wie er bei TV-Shows zwanghaft jede Szene zur Nummer macht.

Derweil wuchert die Deutung im Kopf des Betrachters wie blühende Wasserpest. Ich sehe Pinguine, Stelzvögel, Elefanten am Wasserloch, erkenne Kinder auf der Rutsche und die Schwimmweltmeisterschaften. Wer den Schwanensee suchte, hat ohnehin umgebucht. Der Musikpegel ist wohldosiert: Rocksongs, Karibiksound, Swing, Rap, Soundscapes und auch Klassik bieten einen akustischen Gezeitenwechsel, wo Ebbe droht. Humoristisch wird der Regenschirm zur Dusche, das putzende Karibik-Girl zum Bandleader. Die Wellen schlagen hoch, der Besucher bleibt trocken. Doch für die Deutung gibt’s den Freischwimmerpass, und meine Fantasien bekommen ein Surfbrett.

Nur der Bauingenieur leidet über 100 Minuten. Wasser am Bau war immer ein Wagnis, und so mutmaßt der Fachmann die Haustechniker geknebelt im Keller. Als die Sichtschutzmauer im Finale effektvoll zerbirst und „Aqua“ stoppt, bricht die angestaute Begeisterung aus dem Zuschauerraum, und die glücklich durchnässten Künstler werden vom Beifall überschwemmt. Erst danach droht der technische Gau für das Theaterhaus. Im Moment des Erfolges machen die Tänzer das, was Fußball-Champions vor der Fankurve tun: den „Diver“. Eine Woge wider Willen schwappt über Beckenrand und Bühnenkante und zuletzt in den Orchestergraben. Ich fühle den Triumph der Unvernunft. Sechs Minuten rast ein kleines, feuchtes Provinztheater nah am Tsunami vor Sehnsucht nach mehr und der Weite von Meer.